Vier Antworten zu „20 Sekunden können Leben retten“

Vier Antworten zu „20 Sekunden
können Leben retten“

Ein Beitrag zur Früherkennung des Mundhöhlenkarzinoms

Die Kampagne „20 Sekunden können Leben retten“ wurde ins Leben gerufen, um die Erkennung von Kopf-Hals-Tumoren, insbesondere Mundhöhlenkarzinome, bereits in einem frühen Stadium zu fördern. Bereits 20 Sekunden pro Patient können ausreichen, um die Mundhöhle gründlich auf Karzinome und deren Vorstufen zu untersuchen.

Professor Urs Müller-Richter über die Ziele der Kampagne

Interview Prof. Müller-Richter

Prof. Dr. Dr. Urs Müller-Richter

Oberarzt, MKG-Chirurgie: Leitung medikamentöse Kopf-Hals-Onkologie mit translationaler Medizin, Wissenschaftlicher Koordinator Kopf-Hals-Onkologie am CCC-Mainfranken; Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie Universitätsklinikum Würzburg

Die Kampagne „20 Sekunden können Leben retten“ wurde ins Leben gerufen, um die Erkennung von Mundhöhlenkarzinomen bereits in einem frühen Stadium zu fördern. Bereits 20 Sekunden pro Patient können ausreichen, um die Mundhöhle auf Karzinome und deren Vorstufen zu untersuchen.

Professor Urs Müller-Richter ist Arzt und Zahnarzt sowie Facharzt für Mund-Kiefer- und Gesichtschirurgie an der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie des Uniklinikums Würzburg. Darüber hinaus ist er Oberarzt in leitender Funktion für onkologische Therapien bei Kopf-Hals-Tumoren und fungiert als Koordinator der Kopf-Hals-Onkologie am Comprehensive Cancer Center Mainfranken. Wir haben ihm vier Fragen zur Kampagne „20 Sekunden können Leben retten“ gestellt.

Warum ist das Thema „Awareness schaffen“ für Mundhöhlenkarzinome so wichtig bzw. Ihnen so wichtig?

Prof. Müller-Richter: Derzeit kommen zwei Drittel unserer Patienten erst in einem weit fortgeschrittenen Tumorstadium zu uns. Die Heilungschancen sind allerdings bei früher Diagnose wesentlich günstiger als bei fortgeschrittenen Tumoren. Der Früherkennung kommt daher eine zentrale Bedeutung zu.1 Patienten, die uns im Stadium I vorgestellt werden, haben ein relatives 5-Jahres- Überleben von fast 80-90 %.2

Die Erkrankung entsteht oft auf der Basis von Vorläuferläsionen, die eine frühe Diagnostik erlauben würden. Dass wir die meisten Patienten erst in fortgeschrittenen Stadien sehen, liegt daran, dass auffällige Befunde in der Mundhöhle oft falsch gedeutet werden und mögliche Vorsorgeuntersuchungen unterbleiben.1, 2 Das bedeutet für mich, dass wir sowohl bei den Patienten Aufklärungsarbeit über die Entstehung und das Aussehen von Mundhöhlenkarzinomen leisten müssen, als auch die ärztlichen und zahnärztlichen Kollegen in der frühen Diagnostik von Mundhöhlenkarzinomen besser schulen müssen. Das Mundhöhlenkarzinom ist immerhin in Deutschland der achthäufigste bösartige Tumor beim Mann; es gehört damit insgesamt zu den häufigsten Krebserkrankungen.2 Wichtige Risikofaktoren sind vor allem Alkohol- und Tabakkonsum, und HPV-Infektionen sowie in geringerem Maße eine einseitige Ernährung.1, 2 Das Wichtigste ist, als Arzt oder Zahnarzt den ersten Schritt zu tun und die Inspektion der Mundhöhle in die Untersuchungsroutine einzubauen.1 Das ist bereits mit minimalem Zeitaufwand möglich.

Was kann jeder Arzt, ob Zahnarzt, Allgemeinmediziner oder Dermatologe konkret tun, um Veränderungen im Mundbereich bzw. im Kehlkopf frühzeitig zu erkennen?

Prof. Müller-Richter: Was jeder Arzt, und vor allem der Zahnarzt, tun kann, ist die Mundhöhle strukturiert zu untersuchen. Mit wenig Übung und mit Hilfe von Spateln oder Spiegeln kann dies in weniger als 20 Sekunden gelingen. Daher haben wir auch den Titel „20 Sekunden können Leben retten“ für unsere Kampagne gewählt. Diese Untersuchung sollte nach einem festen Schema ablaufen: Hierbei sind die Lippen, die Lippenschleimhaut, die Wangenschleimhaut, das Zahnfleisch, die Zunge, der Mundboden und der Gaumen miteinzubeziehen. Und wenn man auch noch einen Blick auf den Pharynx und die Tonsillen wirft, hat man für den Patienten sehr viel getan und einen wichtigen Beitrag zur Erkennung von Tumoren im Frühstadium geleistet. Besonders wichtig sind die tiefen, versteckten „Ecken“ in Mundhöhle unter der Zunge am Mundboden. Hier sammelt sich der Speichel und Kanzerogene wie Alkohol oder Zigarettenrauch können lange auf die Mundschleimhaut einwirken und sie schädigen. In diesem Bereich entstehen daher am häufigsten Karzinome der Mundhöhle. Einen besonders genauen Blick sollte man auf den Bereich unter der Zunge am Ende der Zahnreihe werfen.

Was ist zu tun, wenn tatsächlich verdächtige Stellen entdeckt werden?

Prof. Müller-Richter: Ärzte sollten keine Scheu haben, Patienten mit Veränderungen, die sie nicht sicher einschätzen können, zu einem Facharzt mit großer Expertise auf diesem Gebiet zu überweisen. Meist ist das ein MKG-Chirurg oder HNO-Arzt. Die Devise lautet dabei: lieber zu oft überwiesen als einmal zu wenig.

Wenn der Arzt eine Läsion selbst einschätzen kann, empfiehlt sich folgendes strukturiertes Vorgehen:

  1. Die Läsion ist sicher bösartig: Überweisung an ein Kopf-Hals-Tumorzentrum mit guter Expertise in Resektion und Rekonstruktion.3
  2. Die Läsion ist fraglich bösartig: Ausschaltung möglicher Ursachen wie scharfe Zahnkanten, antimykotische Therapie, Prothesenkarenz o.ä. und Kontrolle nach etwa 14 Tagen.3 Sollte die Läsion innerhalb dieser zwei Wochen keine eindeutige Regredienz zeigen, sollte eine Diagnose über eine Biopsie erfolgen.3 Bei stärkerem Verdacht kann auch direkt eine Biopsie entnommen werden.3
  3. Die Läsion ist gutartig: Dann sollte sie beobachtet werden, da bis zu 8 % der oralen potenziell malignen Veränderungen (OPMD) im Laufe der Zeit entarten.3, 4 Gegebenenfalls ist weitere Diagnostik, wie z.B. eine Biopsie, zur weiteren Einordnung angezeigt.3

Betroffene sollten bei einem Spezialisten in ein festes Recall-Schema eingebunden werden. Dieses sieht wie folgt aus: Bei high-grade Läsionen erfolgt vier Mal jährlich (alle 3 Monate) eine Untersuchung, bei Lichen ruber mucosae drei Mal jährlich (alle vier Monate) und bei low-grade Läsionen zwei Mal jährlich (alle sechs Monate).3 Bei diesen Untersuchungen ist eine Fotodokumentation sinnvoll, anhand derer man Veränderungen am besten erkennen kann.

Was hoffen Sie, was wir mit der Kampagne „20 Sekunden können Leben retten“ erreichen und was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Prof. Müller-Richter: Ich hoffe, dass wir bei Patienten, Ärzten und Zahnärzten ein besseres Bewusstsein für die Erkrankung Mundhöhlenkarzinom bzw. Kopf-Hals-Karzinom schaffen. Wir wollen vermitteln, dass eine Früherkennung möglich ist – und dass man mit 20 Sekunden pro Patient Leben retten kann. Dafür sind noch nicht einmal, wie in anderen Tumorentitäten, aufwendige apparative Untersuchungen notwendig.3 Ich wünsche mir für die Zukunft, dass wir mehr Patienten mit Kopf-Hals-Karzinom als bisher in frühen Stadien behandeln können und schwere Verläufe dadurch seltener werden.

Hier finden Sie alle wichtigen Informationen zur Früherkennung von Kopf-Hals-Tumoren übersichtlich in einer Infobroschüre zusammengefasst.

Abkürzungen

OPMD: oral potentially malignant disorders, orale potenziell maligne Veränderungen

Quellen

  1. Leitlinienprogramm Onkologie [Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF]. S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie des Mundhöhlenkarzinoms. Langversion 3.0. – März 2021. AWMF-Registernummer: 007/100OL [eingesehen am 2023 Sep 05]. Available from: URL: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/007-100OLl_S3-Diagnostik-Therapie-Mundhoehlenkarzinom_2021-03.pdf.
  2. Robert Koch-Institut (RKI). Krebs in Deutschland für 2017/2018; 2020 [eingesehen am 2023 Sep 05]. Available from: URL: https://www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Publikationen/Krebs_in_Deutschland/kid_2021/krebs_in_deutschland_2021.pdf?__blob=publicationFile.
  3. Deutsche Krebsgesellschaft (DKG). Krebs im Mund-Kiefer-Gesichtsbereich. Die blauen Ratgeber 2017; (12):1–65.
  4. Deutsche Gesellschaft für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (DGMKG) (Leitlinien Zahnmedizin). S2k-Leitlinie Diagnostik und Management von Vorläuferläsionen des oralen Plattenepithelkarzinoms in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Langversion – September 2019. AWMF-Registernummer: 007-092 [eingesehen am 2021 Aug 17]. Available from:URL: https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/007-092l_S2k_orale_Vorlaeuferlaesion_Plattenepithelkarzinom_2020-04_1.pdf.
  5. Gurizzan C et al. Immunotherapy for the prevention of high-risk oral disorders malignant transformation: the IMPEDE trial. BMC Cancer 2021; 21(1):561.

DE-NON-02567 09/23